- Nō, Bunraku, Kabuki: Theater des Hofes, Theater des Volkes
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Wer zum ersten Mal der Welt des japanischen Theaters begegnet, findet eine fremdartige Schaukunst, die einen hohen Grad von Originalität besitzt und ein lebendiges Stück Vergangenheit bildet. Man unterscheidet drei sehr unterschiedliche Gattungen: das bürgerliche Theater Kabuki, das Puppentheater Bunraku und das klassische lyrische Gesangs- und Tanzdrama Nō, die älteste und strengste Form des traditionellen japanischen Theaters.Die Fremdartigkeit des traditionellen japanischen Theaters wird durch eine Reihe von Merkmalen bestimmt. Da ist der Theaterbau, bei dem Bühne und Zuschauerraum nicht streng getrennt sind: entweder geht die Bühne über die gesamte Raumbreite wie beim Bunraku und Kabuki, oder sie ragt wie beim Nō als ein nach drei Seiten offenes überdachtes Podium in den Zuschauerraum hinein. Die Distanz verringernde Wirkung der Nō-Bühne wird beim Kabuki noch durch einen breiten Steg übertroffen, der auf Bühnenhöhe links durch den Zuschauerraum verläuft und Ort vieler Szenen, Auftritte und Abgänge ist, sodass das Publikum auch räumlich in das Theatergeschehen einbezogen wird. Als weiteres Merkmal zeigt sich im Schauspiel eine starke Stilisierung; unverkennbar herrscht das ästhetische Moment im japanischen Theater vor. Damit verbunden ist die Symbolträchtigkeit der Darbietung und eine spürbare Scheidung zwischen dem individuellen Schauspieler und seiner Rolle, besonders ausgeprägt im zuweilen archaisch wirkenden Nō. Dargestellt wird nicht das Individuum, sondern der Typ. Der Typisierung dient auch der Gebrauch der Maske, sei es in Gestalt einer Vorsatz- oder einer Schminkmaske wie bei Nō beziehungsweise Kabuki oder in Form des ebenfalls maskenhaft wirkenden Puppenkopfs im Bunraku. Die Typisierung der Rolle steht in engem Zusammenhang mit einer lehrhaften Zielsetzung der japanischen Traditionsbühne. Im Nō ist es vorwiegend buddhistisches Gedankengut, mit dem das Publikum angesprochen wird, so insbesondere die Verstrickung von Schuld und Sühne; im Kabuki und Bunraku sind es mehr die konfuzianischen Tugenden, so die Gebote der Vasallentreue, Kindespflicht und Nächstenliebe.Ein weiteres Merkmal des alten japanischen Theaters ist die Vielzahl der Tanzparts mit Orchesterbegleitung. Meist bilden sie Höhepunkte der Aufführung. Das gilt vorrangig für das Nō, das auch als Tanzdrama bezeichnet werden kann. Tanz und Musik sind die ehrwürdigsten Elemente dieser Schaukunst. Ein besonderes Charakteristikum des traditionellen japanischen Theaters besteht darin, dass die Frauenrollen im Nō und Kabuki von Männern gespielt werden. Nur noch wenige Schauspieler beherrschen die subtile Kunst, die Wesenszüge eines Frauentyps, die Schönheit einer Frauengestalt in der grazilen Gestik der »Frauenrollen« (»onnagata«) darzustellen.Schließlich ist zu vermerken, dass die Bühnensprache stark von der modernen Alltagssprache abweicht. Der sprachliche Vortrag ähnelt sehr einem Rezitativ, das sich über ganze Passagen zum Gesang steigern kann. Die im Text verwendete Sprache gehört dem frühen oder späten Mittelalter an, und diese ursprüngliche Textfassung bleibt prinzipiell auch in der heutigen Aufführung verbindlich. Wenn es sich wie beim Kabuki oder Bunraku um die Vorstufe des Neujapanischen handelt, bleibt der Vortrag dem heutigen Publikum noch verständlich. Wenn wie beim Nō die klassische Hochsprache der Heian-Zeit verwendet wird, mit einer Vielzahl poetischer Figuren durchsetzt und der klassischen Lyrik nahe stehend, ist die Verständlichkeit nicht mehr ohne weiteres gegeben.Sucht man nach den Quellen der japanischen Theaterkunst, findet man mannigfache Komponenten, die sich bis ins Altertum zurückverfolgen lassen. Zu nennen sind Feldtänze zur Erntefürbitte (»tamai«), shintoistische Ritualtänze (»kagura«), vom Festland stammende Masken- und Tanszpiele (»bugaku« und »gigaku«), buddhistische Tempeltänze (»ennen-no-mai«), volkstümliche Schaustellungen und Gauklerspiele, zum Teil chinesischer Herkunft (»sangaku«). Elemente dieser Darbietungen wuchsen im 13. und 14. Jahrhundert zu Künsten (»nō«) theatralischer Gestaltung zusammen, die schließlich von berufsmäßig organisierten Schauspielertrupps getragen und vom Adel gefördert wurden. In der frühen Muromachi-Zeit des 14. Jahrhunderts entwickelte sich unter der Gönnerschaft der herrschenden Ashikaga-Shōgune das »Sarugaku(sangaku)-no-nō« zu der spezifischen Form des lyrischen Melodrams, dessen endgültige Prägung den Nō-Meistern Kan'ami und Ze'ami zu danken ist. Kan'ami formte das Nō zum ernsthaften Schauspiel durch die Verbindung von pantomimischem Tanz mit epischem Vortrag. Dabei wurden die possenhaften Elemente des Sarugaku abgelöst und zu Zwischenspielen im Nō-Programm, den Possenspielen Kyōgen (= tolldreiste Reden), ausgestaltet, die ein auflockerndes Kontrastprogramm zum Nō bildeten. Das Nō-Spiel selbst hat Kan'amis Sohn Ze'ami in kunstheoretischen Schriften dramaturgisch und ästhetisch begründet. Als Autor, Regisseur und Schauspieler hat er auch zahlreiche Nō-Stücke geschaffen. So hat das Nō im frühen 15. Jahrhundert seine klassische Form als episches Gesang- und Tanzdrama mit Orchester und Chor erhalten. Aufgeführt in einer Programmfolge von fünf Stücken (Götter-, Helden-, Zeit- und Irrsinnsstücke sowie Geisterstücke), verarbeitete es meist literarische Stoffe der älteren japanischen Epik und Lyrik, die dem adligen Publikum bekannt waren und eine aussparende Gestaltung erlaubten. Gegenüber dem aristokratischen Nō nahmen die possenhaften Zwischenspiele in spaßigen umgangssprachlichen Dialogen die menschlichen Schwächen ihrer Mitwelt, nicht zuletzt auch des Adels, aufs Korn und bilden so eine wichtige Quelle mittelalterlichen Lebens und Wertens in Japan.Neue Impulse erhielt das japanische Theater erst wieder in der bürgerlichen Epoche seit der späten Muromachi-Zeit des 16. Jahrhunderts, nachdem das Nō zu einer esoterischen Kunst für das Rittertum erstarrt war. Die neue bürgerliche Kultur, eine Stadtkultur mit den Zentren Ōsaka und Kyōto, förderte eine Schaulust, die die Entwicklung des Puppentheaters Bunraku und des bürgerlichen Schauspiels Kabuki vorantrieb, basierend auf einer volkstümlichen Vortrags- und Schaukunst, losgelöst vom klassischen Nō. Aus dem Zusammenwirken rezitativer Vorträge ursprünglich blinder Sänger, instrumentaler Begleitmusik der dreisaitigen Shamisen und einem anfänglich noch primitiven Puppenspiel entwickelte sich das Puppendrama, genannt Bunraku (nach dem Namen des berühmtesten Puppentheaters in Ōsaka) oder auch Jōruri (nach dem populärsten Vortragstext). Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts blühte das japanische Puppenspiel dank der hohen Vortragskunst der Rezitatoren, der technischen Vollendung der Puppengestaltung und Puppenführung und insbesondere dank so hervorragender Stückeschreiber wie Chikamatsu Monzaemon, die spannende historische und aktuelle Stoffe auf die Puppenbühne brachten.Chikamatsu war es auch, der wesentlich zur Vollendung des Kabuki als echter Dramenkunst beitrug. Ka-Bu-Ki, den Zeichen nach als Sing-Tanz-Spiel zu deuten, entstand wie das Bunraku unabhängig vom Nō um 1600 aus schaustellerischen Singtänzen, die häufig von Freudenmädchen aufgeführt wurden (»Frauen-Kabuki«), aber durch die sittenstrenge Regierung 1629 dem Verbot anheim fielen. Fortan durften Frauen die Bühne nicht mehr betreten. 1653 wurde um der Moral willen auch das nachfolgende »Knaben-Kabuki« verboten, und erst als Männer-Kabuki wurde die anfangs revueartige Aufführung zum echten Schauspiel mit hohem Niveau, vor allem in der Zeit von 1688 bis 1704, der Genroku-Ära. In einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität, die auch der Entstehung und Verbesserung einer eigenen Theaterarchitektur förderlich war, erfreute sich das Schauspiel regen Zulaufes und eines durchaus modern anmutenden Starkultes. Die historischen und aktuellen Stoffe - Darstellung der bürgerlichen Ideale und des Konfliktes zwischen Pflicht und Neigung - sprachen den Stadtbürger direkt an und begründeten sein Interesse, das allerdings ähnlich und zuweilen besser vom Puppenspiel bedient wurde. Beide Gattungen des bürgerlichen Dramas der Edo-Zeit standen lange in starker Konkurrenz, bis um 1780 das Kabuki das Puppenspiel zurückdrängte, nachdem es die Reife erlangt hatte, in der es bis heute fortlebt.Das traditionelle japanische Theater steht auf einem hohen Niveau und ist ohne Parallele in der Bühnenkunst der Gegenwart. Seine feste Basis ist die genaue Überlieferung, die von Generation zu Generation lebendig bleibt und von den Schauspielerfamilien als verbindlich angesehen wird. Wenn auch das traditionelle Theater Japans Züge musealer Erstarrung zeigt und nur noch einen marginalen Platz im Theaterleben des Landes einnimmt, ist es doch ein Stück lebendiger Vergangenheit und von hohem kulturhistorischem Wert.Prof. Dr. Bruno LewinElisseeff, Danielle und Elisseeff, Vadime: Japan. Kunst und Kultur. Ins Deutsche übertragen von Hedwig und Walter Burkart. Freiburg im Breisgau u. a. 21987.Kato, Shuichi: Geschichte der japanischen Literatur. Die Entwicklung der poetischen, epischen, dramatischen und essayistisch-philosophischen Literatur Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Japanischen übersetzt von Horst Arnold-Kanamori u. a. Bern u. a. 1990.
Universal-Lexikon. 2012.